Schattenreich Nr. 0

Schattenreich Nr. 0


"Späte Rache" von W.K. Giesa
Warten Sie nicht auch jeden Tag sehnsüchtig auf den Feierabend? Ich mache für heute Dienstschluss. Es dämmert bereits, und in spätestens einer halben Stunde ist es dunkel. Und hier in London sind die Nächte derzeit noch dunkler als anderswo, denn eine dichte Smogwolke liegt über der Stadt. Es wird Zeit, dass ich in meine Wohnung komme. Wohnung ist vielleicht etwas übertrieben. Ein Zimmer, eine Kochnische, ein WC und eine Dusche, dafür aber sehr viele lärmende Nachbarn. Ich versuche erst gar nicht, sie zur Ruhe zu bringen. Das gäbe nur Ärger. Natürlich könnte ich mir eine größere, billigere Wohnung nehmen - in einem der Außenbezirke. Aber dann wäre ich jeden Tag endlos lange mit U-Bahn und Bus unterwegs durch die Stadt, um meinen Arbeitsplatz zu erreichen. Mit dem Auto ginge es auch nicht viel schneller und kostet mittlerweile City-Maut. Also habe ich eine Wohnung, die ich in weniger als fünfzehn Minuten zu Fuß erreiche, und längst kein Auto mehr. Ich verlasse das Gebäude von New Scotland Yard und mache mich auf den Weg. Und nach gut fünf Minuten sehe ich ihn!


"Der Kessel der Cerridwen" von Linda Budinger
Er warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Das Heulen der Hunde war näher gekommen. Bald würden sie ihn erreichen, und das wäre ein Schicksal, schlimmer als der Tod, schlimmer als die Ungewissheit, die vor ihm lag. Mit der Weisheit, die er aus Cerridwens Kessel gestohlen hatte, erschuf Gwion das Tor und rannte hindurch. Hier konnten ihn die bleichen, schlanken Hunde von Annwyn nicht einholen, die ihm das Fleisch von den Knochen reißen und seine Seele zerfetzen würden. Die Erschöpfung schlug wie eine Welle über ihm zusammen. Er setzte sich an einen Bäum, um auszuruhen, ein wenig nur... Erschreckt öffnete Gwion die Augen und schaute zum Himmel. Die Sonne war verschwunden, und es war dunkel geworden. Das kannte er nicht, daheim blieb es immer hell, der Himmel stets licht, und die Sonne leuchtete. Er war verloren, für immer. Doch er war am Leben ...


"Oh, du lieber Augustin" von Charlotte Engmann
Schlagartig erwachte Lukas. Er fuhr hoch und schaute sich wachsam um. Was hatte ihn geweckt? Ein Blick auf die blau leuchtenden Ziffern des Radioweckers verriet, Mittag war gerade vorüber. Hinter den nahtlos verschlossenen Jalousien stand die Sonne hoch am Firmament. Es war viel zu früh, um aufzustehen. Dennoch verließ Lukas sein schmales, hartes Bett und schlüpfte in ein helles Leinenhemd und Bluejeans. Irgend etwas stimmte nicht. Er konnte es fühlen, am Randes seine Geistes, wie eine Bewegung knapp außerhalb des Sichtfeldes.


erschienen am 08.10.2004, Titelbild: Candy Kay

Die Nullnummer dieses Magazins gab es niemals offiziell zu kaufen. Sie wurde erstmals auf dem BuCon 2004 verteilt, und auch bei einigen wenigen Veranstaltungen wie der Buchmesse oder anderen Events von BASTEI ausgegeben.