Raven Nr. 9: Im Turm der lebenden Toten

Raven Nr. 09: Im Turm der lebenden Toten


Der Rauch, der schwer und grau in der herbstlichen Luft hing, roch nach Tod und Unheil. Ein kaum merklicher Wind trieb ihn durch die blattlosen, dicht ineinander verflochtenen Skelettfinger der Bäume zu den beiden Gestalten hin, die droben auf dem Hügelkamm standen, bloße Silhouetten gegen den rotgoldenen Ball der langsam untergehenden Sonne. Eine der beiden Gestalten, ein hagerer alter Mann, stützte sich schwer auf einen handgeschnitzten Knotenstock, dessen Griff er mit gichtigen, greisenhaft dürren Fingern umklammerte. Sein gekrümmter Rücken zeichnete sich unter dem groben Stoff seines grauen Umhangs wie ein Buckel ab. Als er sich mühsam vorbeugte, um mit seiner Habichtsnase die heranwallenden Rauchwolken zu prüfen, meinte man fast, seine Knochen wie abgestorbene alte Äste im Wind knarren zu hören. "Da brennen Menschen", sagte der Alte mit trockener, flüsternder Stimme. "Sprich, Junge. Erzähle mir, was du siehst!" Sein Begleiter - mehr ein Knabe als ein Mann - hob die rechte Hand schützend über die. Augen und gab sich alle Mühe, durch den dicken, fettigen Qualm hindurchzuspähen. "Ein Dorf drunten im Tal", begann er stockend. "Die Häuser stehen in Flammen oder sind nur noch verkohlte Ruinen. Und zwischen den Häusern sehe ich Scheiterhaufen, zu Asche verbrannt." "Lebt da noch wer?" "Das kann ich nicht erkennen, Herr." Die Stimme des Jungen bebte und drohte zu brechen. Seine braunen, freundlichen Augen - die zugleich die Augen seines Herrn waren - hatten in den Jahren ihrer gemeinsamen Wanderschaft viel gesehen: Städte, von Pestilenz entvölkert, Schlachtfelder am Tage nach der Schlacht, Pranger, Schafott und Galgen. Doch nie hatten sie sich an den Anblick des Todes gewöhnt, und das Bild des verheerten Dorfes erschien dem Jungen so schrecklich, als habe er bis jetzt in der behüteten Umgebung eines abgeschiedenen Klosters gelebt, und nie erfahren müssen, was Menschen Menschen zufügen konnten.


von K.U. Burgdorf, erschienen am 25.11.2003, Titelbild: Gonzalez
Rezension von Florian Hilleberg:


Kurzbeschreibung:
Vor 500 Jahren spricht der ewige Wanderer Ahasver einen Fluch über den Hexenjäger Nehemiah Oldham und seine Spießgesellen aus. Der Hexenjäger ließ die Bewohner des kleinen Dorfes Stratton-on-Thayne lebendig in einen Turm einmauern. In der Gegenwart sind Raven und seine Verlobte Janice Land auf dem Weg in die Heimatstadt der jungen Frau, wo sie alte Freunde von Janice besuchen wollen. Doch in dem Haus der Devlins haben vier gefährliche Bankräuber Zuflucht gefunden, nach dem ihr Coup geplatzt ist und der Bruder des Drahtziehers schwer verwundet wurde. Während Raven von den Verbrechern überwältigt wird gelingt Janice die Flucht. Verfolgt von einem der Gangster gelangt sie an den Turm, in dem vor 500 Jahren die grausame Hinrichtung eines ganzen Ortes geschah. Sie sieht, wie ein Untoter die Mauer einreißt, um seine gefangenen Gefährten zu befreien. Der Zombie ist ein gefolterter Mann, der durch seine Liebe zu seiner Frau und den Fluch des Wanderers Gerechtigkeit widerfahren soll, ebenso wie den anderen lebenden Toten. Als der Gangster der Janice verfolgt hat auf der Lichtung erscheint töten ihn die Zombies und nehmen Janice mit sich. Im Haus der Devlins wird inzwischen ein weiterer Gangster von einer abgetrennten Zombieklaue erwürgt. Als die Untoten vor dem Haus auftauchen droht Jazz, der Anführer der Bankräuber durchzudrehen. Doch Raven hindert ihn daran auf Janice zu feuern, so treffen die Kugeln aus Versehen seinen schwerverletzten Bruder. Darüber verliert Jazz den verstand. Dann taucht Ahasver persönlich auf. Er erklärt den Anwesenden, dass er die jeweils Erstgeborenen des Hexenjägers und seiner Schergen verfluchte und heute der Fluch seine Erfüllung findet. Die Nachkommen der Schergen starben mit den beiden Bankräubern. Doch Nehemiah Oldham bekam Drillinge und so gibt es drei Nachfahren des Hexenjägers. Einer ist Jazz, der seine Strafe dadurch erhält, dass er auf ewig in einer Nervenheilanstalt untergebracht wird. Sein Bruder bekommt das Leben geschenkt, muss aber nun an der Seite Ahasvers bleiben und ihm seine Augen leihen, da der Wanderer blind ist. Die zweite Nachkommin ist Janice' Freundin Anne Devlin, die ihr ungeborenes Kind an eine der Untoten abgeben muss, die ihr Kind vor 500 Jahren an den Hexenjäger verlor. Und der letzte Nachkomme ist - Raven. Der Detektiv wurde verflucht gegen die Mächte der Finsternis anzutreten. Ahasver verlässt die kleine Gruppe mit dem Versprechen, dass er und Raven sich wieder begegnen werden. Die Untoten ziehen sich in das, wie aus dem Nichts neu entstandene, Stratton-on-Thayne zurück.


Meinung:
Ein wirklich unheimlicher und sehr atmosphärischer Roman. Insbesondere die Vergangenheitsszenerie wirkt sehr plastisch und realistisch, bedingt durch die Brutalität, die der Autor sehr drastisch beschreibt. Aber sie spiegelt in diesem Fall nur die Gräueltaten wieder, die während der Zeit der Hexenverfolgungen tatsächlich geschahen. Der Handlungsstrang über den Bankraub und die Flucht der Verbrecher liest sich genau so fesselnd und man merkt gar nicht wie die Seiten vorüberziehen und der eigentliche Plot auf Kosten der Auseinandersetzungen zwischen den Bankräubern und der Polizei sowie dem Geisterdetektiv in den Hintergrund gerückt wird. Aber der Leser wird sehr schnell wieder daran erinnert, wenn der Untote auftaucht und seine Artgenossen befreit. Wobei der titelgebende Turm eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der Part des Detektivs Raven ist auch ziemlich passiv und eigentlich reagiert er ständig nur, statt zu agieren. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist dieser Roman einer der besten innerhalb der Serie. Es ist kein typisches Zombiegemetzel sondern eine tragische Geschichte um eine 500 Jahre alte Rache, denn die Untoten wollen ja wirklich nur Gerechtigkeit. Nebenbei erfährt der Leser, wieso Raven eigentlich immer das "Glück" hat mit dem Übernatürlichen konfrontiert zu werden. Unter dem Strich gesehen finde ich den Roman so gut, dass seine kleinen Schwächen, durch den guten Gesamteindruck ausgeglichen werden.


Besonderheiten:
Raven erfährt, warum er immer wieder auf das Übernatürlich stößt.
Erster Auftritt des ewigen Wanderers Ahasver.
Dieser Roman erschien bereits als Gespenster-Krimi Band Nr. 519 unter dem Pseudonym Henry Wolf.
Dieser Roman erschien bereits als Dämonen-Land Band 163.


5 von 5 möglichen Kreuzen:
5 Kreuze


Kommentare zum Cover:

Das Cover wirkt gegen die im Roman beschriebenen Zombies schon fast harmlos, wie einem Comic für Erwachsene entnommen. Ganz okay, aber beim besten Willen nicht mehr als durchschnittlich.


Coverbewertung:
2 Kreuze

Zusatzhinweise zu dem Roman kommen von Michael Schick:
Der Roman erschien bereits als Gespenster-Krimi Nr. 519, wobei der Titel geringfügig anders war. Statt wie in der eigenständigen Raven Serie "Im Turm der lebenden Toten" hieß der Ursprungsroman "Der Turm der lebenden Toten"

Gespenster-Krimi Nr. 519: Der Turm der lebenden Toten


Das Cover zu diesem Roman wurde bereits für das Vampira Taschenheft Nr. 45 verwendet.

Vampira Taschenheft Nr. 45: Die Zusammenkunft