Professor Zamorra Nr. 39: Turm der Verlorenen

Professor Zamorra Nr. 39: Turm der Verlorenen


Zwei tief heruntergebrannte Kerzen spendeten spärliches Licht. Der zuckende Schein ihrer Flammen erweckte die aus großen Steinquadern zusammengefügten Mauern zu unheimlichem Eigenleben. Schatten tanzten auf und nieder und ließen den Eindruck entstehen, eine Geisterarmee hätte sich in den Mauern eingenistet. Im Chor der kleinen Kirche standen sieben Gestelle. Sie glichen Katafalken, auf denen ebenso viele offene Särge ruhten. Die Särge waren jedoch nicht leer, sondern menschliche Gestalten lagen in ihnen. Einer der Toten entzog sich jeder Beschreibung. Sein Gesicht war kaum noch als menschenähnlich zu bezeichnen, und der Blick aus seinen leeren Augen, die zur Decke der Kirche gerichtet waren, barg ein kaum wahrnehmbares und unheimliches Leben. Es war nicht der Gesichtsausdruck, den man bei einem Toten finden kann. In diesen Augen lag mehr, viel mehr als nur das Signal eines seelenlosen Körpers. Dieser Tote hier war nicht normal und euch nicht mit solchen Maßstäben zu messen. Von Zeit zu Zeit huschte ein Lichtschimmer über das Gesicht des Toten. Die lidlosen Augen zuckten nicht, sie konnten es auch nicht, denn sie waren tot, und in ihnen wohnte schon die Kälte ewiger Nacht. Und doch war dieses Gesicht nicht starr. Es schien zu leben, sich zu bewegen, seinen Ausdruck zu verändern. Die Wangen wurden faltig, Runzeln traten auf die halbverbrannte Stirn. Die linke versengte Augenbraue des scheinbar Toten zuckte, Die schmalen Lippen spannten sich und strafften sich in die Breite. Sie wichen auseinander und gaben den Blick auf zwei Reihen schwarzer Zahnstümpfe frei. Das Grauenhafte war Wirklichkeit. Der Tote grinste!


Teil 3 von Michael Kubiak, erschienen am 16.12.1975