Larry Brent Nr. 99: Die Lady mit den toten Augen
Larry Brent Nr. 99: Die Lady mit den toten Augen


Roy Evans richtete sich auf, fuhr mit der Hand durch die Haare und verließ das Bett. Sein Blick fiel auf den altmodischen Wecker. Erst halb zwölf. Er fühlte eine Unruhe und Nervosität, die er sich nicht erklären konnte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Es war zu warm und die Luft drückend, eine Seltenheit hier in dieser Gegend. Roy Evans trug nur einen Schlafanzug, als er das kleine, abseits gelegene Haus verließ. In der bergigen Gegend lebte so gut wie niemand. Der nächste Ort war zehn Meilen entfernt. Obwohl Evans sich leise verhielt, entging seiner Mitbewohnerin nicht, daß die Tür ins Schloß fiel. "Was ist denn los, Roy?" Das war die Stimme seiner Mutter, die oben ihren Schlafraum hatte. Die alte Frau lebte allein mit ihrem Sohn. "Ich kann nicht schlafen. Ich gehe kurz raus, um frische Luft zu schnappen." Evans atmete tief die Luft ein. Er wohnte seit seiner Geburt hier, war jetzt sechsunddreißig, konnte sich aber nicht daran erinnern, je einen so heißen Sommer erlebt zu haben. Die Nacht war lau, der Himmel hing voller Sterne und spannte sich wie ein riesiges Zelt über die gebirgige Landschaft von Nordwales. Plötzlich raschelte es. Roy Evans wandte den Kopf. Da stand jemand ... Ein junge Frau. Der helle Schein des Mondes lag auf ihrem bleichen, schmalen Gesicht. Die großen Augen sahen aus wie dunkle Höhlen, in denen... Das war es! Evans merkte, wie es ihm eiskalt über den Rücken rieselte. Die Fremde hatte keine Augen im Kopf!


Rezension von Florian Hilleberg:


Kurzbeschreibung:
Auf der Fahrt nach London treffen die PSA-Agenten Larry Brent und Iwan Kunaritschew in Nordwales auf eine umherirrende Frau, der man die Augen herausgeschält hat. Zunächst glauben sie nicht daran, dass es ein Fall für die PSA sein könnte, doch als am nächsten Morgen die verletzte Frau aus ihrem Krankenbett verschwunden ist, stellen die Agenten Nachforschungen an. Die Spuren führen zu Lord Billerbroke, der sein Schloss zu einer Nervenheilanstalt umfunktioniert hat, wo er Geisteskranken, die keine Angehörigen haben, helfen will. Larry gibt sich als Scotland Yard-Beamter aus, der jeglichen Verdacht gegen Billerbroke und Dr. Hill ausräumen will, während Iwan über den ersten Butler des Lords recherchiert, der ebenfalls in einer Psychiatrie einsitzt. Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse und Larry Brent verfängt sich in einem Netz aus Rätseln und Geheimnissen. Wer ist die junge Frau ohne Augen, die er am Fenster des Lords gesehen hat? Welche Rolle spielte der merkwürdige Meteorit der vor fünfzig Jahren in dieser Gegend einschlug? Ist es Zufall, dass gerade jetzt wieder ein Himmelskörper zur Erde stürzte?


Meinung:
Ein unheimlich spannender, atmosphärisch dichter Gruselroman in bester Dan-Shocker-Tradition mit einer gehörigen Portion Brutalität. Als der jungen Frau die Augen herausgeschnitten werden, kann einem beim Lesen schon ganz anders werden. Das liegt vermutlich daran, dass der Autor in diesem Roman mit einer der Urängste des Augentieres Mensch spielt: Dem Verlust der Sehkraft. Die Augen gehören zu unseren wichtigsten Sinnesorganen und sie auf eine so brutale Art und Weise zu verlieren geht wirklich unter die Haut. Wenn Dan Shocker beschreibt, wie die armen Wesen ziellos durch stockdunkle Nächte irren, oder die Opfer des Wahnsinnigen eingepfercht in einem Verlies dahinvegetieren, wird eine neue Tür des Grauens aufgestoßen. Auch der Plot der Geschichte ist überzeugend, wenn auch ein wenig surrealistisch, aber dass passt zu dieser Irrenhausgeschichte. Allerdings gibt es auch Punkte, die mich etwas störten. Über die Darstellung der Nervenheilanstalt sehe ich jetzt mal hinweg, als der Roman nämlich das erste Mal erschien, war in der Psychiatrie noch vieles anders, und zudem habe ich mich zu dem Thema bereits an anderer Stelle ausgelassen. Aber dass Lord Billerbroke sich nur zusammen mit seinem Butler Burke und dem Arzt Dr. Hill um über 80 (!) Patienten kümmern soll, ist gelinde gesagt lächerlich. Selbst wenn die meisten sich noch selbst versorgen können, braucht man, um eine Eigen- und Fremdgefährdung zu verhindern eine angemessene Personalbesetzung, die eine 24 Stunden-Betreuung ermöglicht. Dass keine leichten Fälle dort einsitzen hat der Lord selber gesagt. Ein weiterer Punkt ist die stümperhafte Vorgehensweise der unheimlichen Augenmörder. Als sie einer jungen Frau die Augen entfernen und von ihrem Ehemann angegriffen werden, können sie sich nur mit großer Mühe, dem aufgebrachten Mann erwehren, obwohl einer der beiden später eine Pistole zückt. Warum hat er die nicht schon auf seinem Beutezug dabei gehabt und warum töten sie den Mann nicht und lassen stattdessen einen Zeugen leben? Mit einem Phantomzeichner der Polizei wird man schnell herausfinden können, wer hinter dem Überfall steckte. Dann einfach zu behaupten der Lord könnte es nicht gewesen sein, nur weil Larry sich nicht gemeldet hat, ist einfach stümperhaft von unserem Chief-Superintendent. Ansonsten bietet der Roman wirklich spannende Unterhaltung, einer der beklemmendsten Larry-Brent-Romane die ich je gelesen habe.


4 von 5 möglichen Kreuzen:
4 Kreuze


Kommentare zum Cover:

Das Cover ist ziemlich gelungen, auch wenn mich die komische Ratte links im Bild etwas gestört hat. Ansonsten gibt das Titelbild die Stimmung des Romans hervorragend wieder.


Coverbewertung:
3 Kreuze

Ein Zusatzhinweis zu dem Titelbild kommt von Michael Schick:
Das Titelbild des Larry Brent Romans von Prieto Muriana wurde auch schon auf dem Cover des in der Reihe TERROR erschienenen spanischen Horror-Comics "LOS OJOS DE CHARLOTTE" (auf deutsch: Die Augen der Charlotte) verwendet. Das Comic wurde von Mortimer Cody gezeichnet:

"Die Augen der Charlotte"