Frankfurt - 08.09.2003 / 15:00 Uhr
"Und? Vermisst du New York?" Linda blinzelte in die Sonne, während sie
an einem Fruchtcocktail nippte. Die Sonne schien über die Dächer
von Frankfurt, fiel auch auf das Dach der Zeilgalerie und dort genau in ihr
Gesicht. Wir hockten auf bequemen Stühlen in einem neu eröffneten
Restaurant, welches die Dachterrasse bewirtschaftete, und genossen das
süße Nichtstun. Die Temperaturen waren warm , doch hier oben in
Schwindel erregender Höhe fuhr ein sanfter Luftzug über unsere
Köpfe hinweg. "Nein, im Moment nicht. Wollte eigentlich wieder nach
Hause fliegen, doch jetzt bin ich ganz froh, ein paar Tage mit dir verbringen
zu können. Wir haben uns in letzter Zeit kaum gesehen. Schade eigentlich."
Meine Freundin nickte voll Inbrunst. Ich wusste, wie sehr ich ihr abging.
Mein Verschwinden damals war plötzlich gekommen, der Schnitt für
alle Seiten hart. Andererseits war es exakt das gewesen, was ich gebraucht
hatte. Weg von dem, was mich ankettete, und zurück in ein freieres Leben.
"Gut, dass du mal wieder etwas Zeit hast. Dachte schon, die Leute in New
York seien alle viel besser als wir hier und du hättest dein Interesse
an uns verloren." "Ach was", gab ich zurück. "Überhaupt nicht.
Die Zeiten waren stressig, es gibt viele Dinge zu verarbeiten." Linda, die
keine Ahnung von dem hatte, was hinter mir lag, nickte wieder. Für sie
war quasi nichts geschehen. Keine Zeitverschiebungen, keine Kriege und kein
Tod, wie ich ihn erlebt hatte. Es war mir gelungen, die uns bekannte Zeitlinie
wiederherzustellen. Nicht allein, sondern mit Joyces Hilfe. "Aber nun bin
ich da, du hast ein paar Tage Urlaub und im Moment sieht es nicht danach
aus als würde sich die Hölle auftun, um uns anzugreifen. Weder
hat John Harvey irgendwelche Hinweise darauf noch Florence O'Brien oder
Diana-Marie. Friede all überall." War es eine Folge von dem, was sich
ereignet hatte? War es mir gelungen, die andere Seite derart zu schädigen,
dass sie sich nun für eine Weile erholen musste? Ein schöner Gedanke,
an den ich aber nicht so recht glauben wollte. "Florence", zischte Linda,
nachdem sie erneut an ihrem Drink genippt hatte. "Aus der werde ich einfach
nicht schlau. Sie ist boshaft, spielt ihr ganz eigenes Spiel - wird aber
bei dir zu einem Lamm. Was läuft da?" "Keine Ahnung", bekannte ich
freimütig. "Sie steht auf mich. Zumindest glaube ich das. Oder sie benutzt
mich - kann auch sein. Sie hat ein berufliches Interesse an mir, da Teile
der SSSK denken, sie könnten mich akquirieren. Andererseits erklärt
das noch nicht, dass sie mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu
verführen versucht. Andererseits ist es auch egal. Sie ist nicht hier,
aber du bist es. Also ..." Linda lächelte zufrieden, ehe sie aufstand,
um sich ein weiteres Glas Saft zu holen. Das Restaurant war gut und
günstig, bediente seine Gäste aber nicht, sondern setzte auf
Selbstbedienung. Vier Kassen, ein Büffet und am Ende hatte der Gast
mehr auf seinem Tablett, als er eigentlich wollte. Versonnen blinzelte ich
in die Sonne, ehe mein Blick hinüber zur Paulskirche glitt. Ein besonderes
Symbol, die Wiege der Demokratie in Deutschland. Mehr als einmal war ich
bereits drinnen gewesen, um mir die Ausstellung im unteren Saal anzuschauen,
und einmal auch, um der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
beizuwohnen. Nicht als Besucher, sondern als Sicherheitspersonal, nachdem
mein Boss einige Jahre zuvor mit einem Angriff auf den Preisträger
fürchtete - ein Angriff, den, wenn er tatsächlich erfolgt wäre,
kein Sicherheitsbeamter hätte verhindern können. Fritz Stern war
damals der Preisträger gewesen, es war nichts geschehen und am Ende
war ich traurig, nicht ein Jahr zuvor in der Paulskirche gewesen zu sein,
als Martin Walser seine durchaus umstrittene Rede gehalten hatte. Ein in
meinen Augen durchaus würdiger Preisträger übrigens, der in
manchen Teilen wohl zu Unrecht gebrandmarkt wurde - trotz seines Auftritts
in Wildbad Kreuth und seines Romans Tod eines Kritikers. Ich selbst hatte
das Werk seinerzeit gelesen und nicht den Eindruck gewonnen, Walser sei
Antisemit. Wie oft war ich schon hier oben auf dem Dach der Galerie gewesen,
wie vertraut war mir das alles. So vertraut wie Grosetto, mein ehemaliger
Wohnort in der Toskana, und nun zunehmend auch New York. Der Central Park,
die Upper West Side und Brooklyn, denn dort wohnte Clarissa Edgecomb, die
zu einer Freundin geworden war. Sie schrieb regelmäßig Mails,
wir telefonierten gelegentlich und als sie sich vor wenigen Tagen unsterblich
in eine Studentin verliebt hatte, erfuhr ich als Erste davon - noch vor ihrem
Breakfast Club, da die Frauen dort ohnehin nur gelästert
hätten.