Das Zimmer sah aus, wie man sich den Raum einer Heranwachsenden vorstellte.
Poster an den Wänden Boygroups und der Gewinner der ersten
DSDS-Staffel, Alexander. Dazwischen ein Pärchen im Sonnenuntergang;
romantische Stimmung, zu der auch die dunkel gestrichene Decke mit den vielen
hellgelben Neonpunkten passte. Vor dem Fenster des Jugendzimmers wuchs ein
Baum empor. Seine Äste kratzten manchmal über das Fenster, und
früher hatte sich Madeleine in solchen Nächten gefürchtet.
Wenn der Wind um das Haus strich, der alte Baum sich bewegte und die
unheimlichsten Geräusche durch das Haus tönten. Inzwischen war
sie bereits 15 und kannte jedes einzelne Geräusch, welches der Wind
oder auch das Haus verursachen konnte. Es gab keinen Grund mehr, sich vor
diesen Lauten zu fürchten. Stattdessen fürchtete sich vor etwas
anderem. Nacht für Nacht, sobald es ruhig wurde im Haus, begann der
Terror, dem sie nicht so einfach entfliehen konnte. Leise und unmerklich,
unbeachtet von ihren Freundinnen und so grausam, dass es ihr den Mund verschloss.
Wann hatte es begonnen? Madeleine wusste es nicht mehr genau. Irgendwann
mit zehn oder elf. Da geschah es zum ersten Mal, dass sich in der Nacht die
Tür zu ihrem Raum öffnete und ihr Vater mit einer Bierfahne an
ihr Bett kam, um sie dort zu berühren, wo Kinder nicht berührt
werden wollen. Um zu tun, was Kinder nicht begreifen können, und um
sich an dem zu vergnügen, was Kinderseelen zerstören kann. Madeleine
hasste ihr Bett. Sie hasste das Zimmer und sie hasste sich. Mehr noch als
ihren Vater, der ihr immer wieder beteuerte, dass allein ihre Schönheit
verantwortlich dafür sei, dass er sich nicht im Griff habe. Dreimal,
viermal die Woche, nach Mitternacht und immer dann, wenn er sich vor dem
Fernseher bei Uhse-TV oder einem härteren Streifen aufgegeilt hatte
und der Alkohol seine Hemmungen nahm. Wie oft hatte sich das Mädchen
gewünscht, fett und hässlich zu sein, damit ihr Vater die Finger
von ihr ließ. Sie wusste nicht, dass er dennoch gekommen wäre.
Um sich an ihr zu befriedigen und den Trieb auszuleben, der tief in ihm steckte.
Auch in jener Nacht lag Madeleine wach und wartete. Leise tickte der Wecker,
den sie zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Von ihrer Mutter,
die genau wusste, was ihr Mann tat, und doch schwieg. Ein großer Wecker
mit weißem Ziffernblatt und dem Aufdruck einer bekannten Boyband. Oft
versank Madeleine zum Klang der Musik in ihren Träumen, vergaß
den Schrecken, der so namenlos für sie war und der sie mit einer Scham
erfüllte, die sie schweigen ließ. Früher war sie aufgeweckt
und fröhlich gewesen, mittlerweile jedoch in sich gekehrt und still.
Ihren Freundinnen war es aufgefallen und auch den Lehrern. Doch wann immer
man sie darauf ansprach, schwieg Madeleine. So als würde ihr das Geheimnis,
welches sie mit sich herumtrug, die Lippen verschließen. Das Mädchen
lauschte. Auf das Ticken des Weckers, das sie schläfrig machte. Auf
die Musik und die Stimmen, die durch die dünnen Wände auch in ihrem
Raum zu hören waren. Auf das Geräusch einer entkorkten Bierflasche.
Sie wusste er würde kommen. Betrunken, grob und mit einem Funkeln
in den Augen, welches Madeleine ängstigte. Er würde kommen, seine
Hose vor ihrem Bett herunterlassen und dann
Es würde anders sein als sonst. Sie wusste es. Sie spürte es. Sie
hoffte es. Ganz anders, denn diesmal war Madeleine vorbereitet. Dies zumindest
hoffte sie. Draußen vor dem Haus war es still. Der Wind wehte an diesem
Abend nur schwach, schaffte es kaum, die Äste zu bewegen. Ein schwacher,
abnehmender Mond hing über dem Haus, kaum von Wolken bedeckt. Es war
eine Winternacht, wie sie angenehmer nicht sein konnte. Auch wenn draußen
eisige Temperaturen herrschten, war es in den Wohnungen und Häusern
angenehm. Oder gerade deswegen? Weil man sich im Warmen aufhalten und hinaus
in die sternklare Nacht schauen konnte, mit einem Buch in der Hand, welches
von warmen Sommertagen und Inseln erzählte, die jenseits des Horizonts
so viele Abenteuer bereithielten.