![]() |
Love me tender, love me long
Der alte Elvis-Song plärrte aus den Boxen des Weltempfängers. Lorenzo
Bernudo mochte den King. Aber nicht nur ihn. Er mochte überhaupt die
gute, alte Musik, wie er es nannte. Alles, was sie damals, als er noch ein
junger Mann gewesen war, gespielt hatten, gefiel ihm. Elvis Presley eben,
aber auch die Platters, die Shirells und wie sie alle hießen. Bernudo
hatte sich eigens hierfür diesen Weltempfänger zugelegt, denn mit
ihm bekam er die meisten Oldiesender Europas rein. Mit ihnen, so sagte er
seiner Frau stets, könne er jede noch so öde und langweilige
Nachtschicht überstehen. Bernudo mochte seinen Job als Nachtwächter
in dem kleinen Archiv. Hier lagerten jene Bücher und Aufzeichnungen,
welche über die Jahrhunderte hinweg angefallen waren und teils das
große Weltgeschehen, teils aber die kleinen Begebenheiten dokumentierten.
Randnotizen oft, vergessen von den Historikern und nicht zu finden in
irgendwelchen Geschichtsbüchern. Manchmal streifte sich Lorenzo Bernudo
die weißen Handschuhe über und begann, in einem dieser alten Folianten
zu schmökern. Obwohl es eigentlich verboten war, die Werke nur der
Wissenschaft zur Verfügung standen. Aber dies interessierte den schon
60-jährigen Mann nicht weiter. In den 70ern war er nach Deutschland
gekommen, hatte sich als Spaghettifresser beschimpfen lassen müssen
und es trotz alledem geschafft, seinen Weg zu gehen. Seine Frau Maritta
war Deutsche und auch seine Kinder Emilio und Sandra. Vor ein paar
Jahren dann hatten sie ihn entlassen. Einfach so. Zu alt, hatten sie gesagt,
und zu wenig Arbeit. Junge Mitarbeiter wurden gebraucht, die sich mit den
modernen Maschinen und Computern der Fabrik auskannten. Für ihn war
kein Platz mehr im täglichen Wettlauf um Marktanteile, Verkaufszahlen
und Innovationen. Für ihn war es sogar schon schwierig geworden, sich
die ganzen Produkte einzuprägen, die täglich über seine Theke
gingen. Nudeln in verschiedenen Soßen, Nudeln ohne Soße, Soße
ohne Nudeln und Suppen. Dann noch
Als sie ihn entließen, traf
es ihn dennoch hart. In seinem Alter, das wusste er, würde er nirgends
mehr einen Job finden. Nicht mehr in einer Fabrik und auch sonst wo nicht.
Selbst das Arbeitsamt hatte ihm keine Hoffnungen machen können und auf
Frührente gedrängt. Diese bekam Bernudo inzwischen auch, hatte
es aber gleichzeitig geschafft, in diesem Archiv eine Stelle als
Nachtwächter zu finden. Nicht sonderlich gut bezahlt, aber mit der Rente
zusammen standen sie nun besser da als zuvor. Und es machte ihm Spaß,
in aller Ruhe durch die Gänge und Räume des Gebäudes zu wandern,
in den Büchern zu schmökern oder einfach nur auf seinem Platz zu
sitzen, um Radio zu hören. Seit drei Jahren machte er dies nun, und
noch nie hatte er die Polizei verständigen oder im Hause des Archiv-Leiters
anrufen müssen. Niemand brach ein und keiner hatte Interesse an den
verstaubten Schriften in den hohen Schränken und Regalen. Tagsüber
war es wohl anders. Da musste hier richtig viel Betrieb herrschen. Das zumindest
hatte ihm Fritz erzählt, der die Tagschicht hatte. Wissenschaftler und
Journalisten gingen ein und aus, es kamen neue Werke hinzu oder alte wurden
restauriert. Ein Treiben, von dem Bernudo nichts mitbekam. Wenn er um acht
seinen Dienst antrat, war die Putzfrau durch und der letzte Mitarbeiter
längst gegangen. Um fünf wurden die Türen geschlossen, um
sechs ging das Licht aus. Mike, ein Kollege für die Nacht, den er einen
Monat zuvor angelernt hatte, kam stets mit Notebook. Das schloss er dann
an die Standleitung des Archivs an, um ungestört im Internet zu surfen.
Bernudo hatte ein paar Mal versucht, bei eBay zu bieten vergebens.
Die moderne Technik war nichts für ihn, da biss die Maus den Faden nicht
ab. Der Italiener setzte sich zurück und schloss die Augen. Elvis war
verklungen, und nun sang Roy Orbison sein Lied vom blauen Kalifornien. Das
Rätselheft lag auf dem Tisch und auch ein Roman von Eco. Bernudo hatte
Der Name der Rose gelesen, dann Das Foucaultsche Pendel,
und nun wagte er sich an Baudolino heran. Ob seine Liebe zu diesem
Autor daher rührte, dass beide aus der gleichen Gegend Italiens stammten
nahe der Stadt Turin? Oder war es einfach der Stil des großen
Autors? Benudo wusste es nicht. Aber er wusste, dass seine Frau diese
Bücher nicht mochte. Maritta las lieber Harry Potter, und
den konnte er nicht leiden. Regen fiel. Er prasselte auf das Flachdach des
Gebäudes, perlte von den großen, kuppelförmigen Glasfenstern
ab, die wie Pickel in die Höhe ragten, und sammelte sich in den metallenen
Rinnen, um gurgelnd im Boden zu verschwinden oder das Fass im Garten hinter
dem Haus zu füllen. Ein ungemütliches Wetter, welches den Mann
frösteln ließ, wenn er nur an seinen Feierabend dachte. Obgleich
es bis dahin noch viele Stunden waren, denn gerade erst waren die
Mitternachts-Nachrichten durch. Tagwende, Geisterstunde. Er hatte sich nie
etwas aus Spukgeschichten gemacht. Obwohl ihm seine Großmutter fast
jeden Tag ein Schauermärchen erzählt hatte. Damit er besser schlief,
die Sorgen vergaß, welche die Schule mit sich brachte, oder einfach
so. Als Bernudo ein Kind war, hatten sie keinen Fernseher gehabt. Nur das
Radio sorgte für Unterhaltung und eben Großmutters
Schauergeschichten von Geistern, Dämonen und Vampiren. Für ihn
waren das alles Hirngespinste, Dinge, mit denen man sich nicht abgeben musste.
Vielleicht war dies auch der Grund, warum er dem Zauberlehrling aus England
so wenig abgewinnen konnte. Lächelnd dachte er an seine Frau, die nun
im Bett lag und den fünften Harry Potter las. Wie viele
Seiten mochte sie schon haben? Hundert? Zweihundert? Sie konnte fanatisch
sein, was das betraf. Manchmal
Er stutzte. Tief im Inneren des
Gebäudes war ein Geräusch erklungen, wie er es noch nie zuvor
gehört hatte. Und dabei bildete er sich ein, inzwischen jeden einzelnen
Laut zu kennen, den dieses Haus von sich geben konnte. Dieser hier war anders
als alle, die er je gehört hatte. Ein tiefes Klong, das sich zu seinem
Erstaunen noch zweimal wiederholte. So als würde Metall auf Metall schlagen.
Eigentlich gab es dafür nur eine Erklärung jemand versuchte,
die Verriegelung der Fenster gewaltsam zu öffnen, um